Der Weg nach Surabaya. Reportagen und kleine Prosa.
von Christoph Ransmayr
240 Seiten mit Fotos, FISCHER Taschenbuch, 13,00 €
ISBN: 978-3-596-14212-5
Wieder gelesen – neu gelesen
Warum habe ich das Buch „Der Weg nach Surabaya“ von Christoph Ransmayr (erschienen 1997) zur Hand genommen?
Im Frühjahr des Jahres 2021 hat man aktuell in Zeiten der Pandemie wenig Aussicht zu verreisen. So wollte ich das wenigstens literarisch tun, in Form von Reiseerzählungen, die den Leser mitnehmen an unbekannte und interessant klingende Orte. Der Titel „Der Weg nach Surabaya“ klang für mich nach Ferne und deshalb sehr verlockend.
Vor ungefähr 20 Jahren habe ich diesen Band schon einmal gelesen und mich aus erwähntem Grund (des Fernwehs wegen) seiner erinnert. In Indonesien, wo sich der titelgebende Ort befindet, bin ich nie gewesen, wohl aber ganz in der Nähe des Ortes der ersten Erzählung, der Hallig Hooge, im nordfriesischen Wattenmeer.
Wie hat der Österreicher Ransmayr dieses norddeutsche Fleckchen Erde beschrieben, das regelmäßig vom Meer um- und überspült wird und das für Mensch und Tier nur wenig Raum lässt, wo die Füße trocken bleiben? Ransmayr hat als Kulturredakteur und Reporter für „Merian“, „Geo“ und „TransAtlantik“ geschrieben und 1985 den Text über das mühsame Leben auf Hooge verfasst. Aber eben das mit meinen eigenen Eindrücken abzugleichen hat mich gereizt. Von der räumlichen Entfernung nicht weit weg von meinem Wohnort (von Berlin reist man dorthin mit dem Auto in 4 Std. plus Fährenüberfahrt zur Nachbarinsel), aber vom modernen Leben des 21. Jahrhunderts doch so fern. Ich selbst habe Nordfriesland und das Wattenmeer als Urlauber naturgemäß ganz anders wahrgenommen als Ransmayr das beschrieben hat.
Um es gleich vorweg zu sagen, Ransmayrs Erzählungen erfüllen bestimmt nicht die Erwartungen, die man an einen typischen Text im Reisemagazin mit Hochglanzbildern hätte: alles was wichtig und sehenswert ist, wohlproportioniert serviert zu bekommen, „Geheimtipp“ inklusive. Der Leser wird hier u.a. nach Oberbayern mitgenommen, ins Mostviertel nach Niederösterreich oder zum Stausee nach Kaprun. Die beschriebenen Orte leben weniger durch imposante Berge und fantastische Aussichten als durch die Bedeutung der Menschen, die in ihnen gelebt und sie geformt haben. Besonders markant wird dies anhand der gigantischen Anstrengung zur Entstehung des Stausees von Kaprun: die Umformung der Bergwelt, „der Sieg über die Natur, der Triumph der Technik“, möglichgemacht durch Visionen, Ingenieurskunst, gigantische Sprengungen und Zwangsarbeit – tödliche Unfälle wurden in Kauf genommen. So wurde ein „Idyll“ geschaffen, dessen Bedeutungsbeschreibung man in Hochglanzbildbänden meist vergeblich sucht.
Ein Kirchrechnungsführer und Hufschmied, ein Lichtbilder sammelnder Konditormeister, ein Totengräber – sie sind die herausgehobenen Menschen, die das jeweilige Bindeglied darstellen im großen Zusammenhang, um die Bedeutung und Einzigartigkeit der Orte und Landschaften zu verstehen, zu denen der Leser mitgenommen wird.
Mal ist Ransmayr als „Untertan“ mit einer Reisegruppe österreichisch-habsburgischer Adeliger auf einer Rundtour in den Alpen unterwegs, die im Besuch bei der niemals abgedankten 90jährigen Kaiserin Zita im Schweizer Exil gipfelt. Majestät, Baron und Durchlaucht werden dabei auf ihrer kleinen Reise in ihren besonderen Befindlichkeiten beschrieben, wie es nur einem Österreicher gelingt. Auf einer anderen Reise begleitet Christoph Ransmayr als Berichterstatter „irgendeiner“ Zeitschrift einen polnischen Pfarrer auf dem Weg zur „Schwarzen Madonna von Czenstochau“, der „Königin“ der Polen. Christoph Ransmayr (auf Polnisch Krzysztof), dessen Vorname schließlich einmal „Christusträger“ bedeutet habe, bekommt vom Pfarrer gleich noch einen weiteren polnischen Namen: „Braciszek“ – Brüderchen. Zur historischen Einordnung: Dieser Text entstand 1982, also noch weit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs und den Umbrüchen in Osteuropa. Schon bei der erstmaligen Publikation dieses Erzählbandes (1997) bot sich dem Leser die Möglichkeit zur Rückschau auf die polnische Frömmigkeit. Heute, weitere 20 Jahre später, frage ich mich, wie Ransmayr jetzt über die Gemütslage in diesem Land schreiben würde?
In diesen und den weiteren Reportagen werden Räume ausgeleuchtet, im Sinne von geologischen Formationen, aber mehr noch im Sinne von „Räume im Menschen“, die überhaupt erst den Lesern die aufgesuchten Orte verstehen lassen. Für mich liegt darin eine Überzeitlichkeit, die die Texte nicht altern lassen. Die Texte sind auch nach 30 Jahren noch genauso lesenswert wie zur Zeit seiner Entstehung. Wenn ich den „Weg nach Surabaya“ auch nach langer Zeit wieder zur Hand nehme, entstehen vor meinem geistigen Auge Bilder, die in mir den Wunsch entstehen lassen, sofort dorthin zu fahren.
Ach ja: Surabaya. Die vorletzte Erzählung dieses Bandes entstand 1992 und wurde als Dankesrede anlässlich der Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München gehalten. Ganz lapidar steht unter dem Titel: „Protokoll einer Lastwagenfahrt“. Da ich jetzt einiges von der Fabulierkunst des Autors schon erlesen habe, wusste ich, dass mich auch hier keine bürokratische Auflistung von Personen und Ereignissen in einem festumrissenen Zeitraum erwartete, sondern ein farbenfrohes, detailreiches und warmherziges Bild, die Momentaufnahme einer Fahrt in einem offenen Lastwagen an den Abhängen des Vulkans Arjuna im Osten Javas entlang nach Surabaya. Die Zuhörer seiner Dankesrede dürften sich nicht gelangweilt haben.
Zu meiner großen Freude erschien am 24.03.2021 ein neues Buch von Ransmayr: „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten.“
Mein persönliches Fazit:
Ich wollte literarisch verreisen und fand Weltliteratur. Jede einzelne Erzählung / Reportage hat mich begeistert. Die ebenso warmherzige wie brillant formulierte Sprache Christoph Ransmayrs, erzeugen in mir den Wunsch, mich auf die tatsächliche Reise zu begeben und der Stimmung der so unterschiedlichen Orte und deren Menschen nachzuspüren.
Olaf Schwetje
Olaf Schwetje gehört zum Team der Buchhandlung „Kapitel 8“.